Vernunft kann man nicht erzwingen. Finden Sie, man muss es trotzdem versuchen?
Ich bin in Dresden geboren. Ich komme aus Sachsen. Das ist eine prosperierende Region. Und der Schatten, den der Rechtsextremismus auf diese wirft - von den Eliten her auch noch als westdeutsches Invasionsprodukt -, muss jetzt bekämpft werden. Es werde Licht, denn Sachsen ist anders. Ganz anders. Ich bin Sachse! Und ich werde bis zum letzten Atemzug gegen das Kippen von Mehrheitsverhältnissen kämpfen. In Chemnitz wurde Ende August gezielt eine Atmosphäre der Einschüchterung geschaffen. Chemnitz ist eine Großgeste der Dominanz und Einschüchterung von rechtsextremer Seite. Damit ist jetzt Schluss. Sie können das gerne auch Vernunft nennen.
Wenn man sich die Internet-Reaktionen auf die Enthüllung der "Honigtopf-Falle" durchliest, bekam man den Eindruck von Unsicherheit, aber durchaus auch Angst in Neonazi-Kreisen. Ist so eine Zurückeinschüchterung der richtige Weg?
Das ist uns völlig egal, ob die sich jetzt alle fragen, wer wen verpfiffen hat. Wichtig ist doch, dass sich die Nazis selbst identifiziert haben.
Wie wurden die "Verdächtigen", die Sie auf Ihren "Steckbriefen" gezeigt haben, eigentlich ausgesucht?
Sehr sorgfältig und mit algorithmischer Schützenhilfe. Es ist eines der aufwendigsten Rechercheprojekte der jüngeren Zeit. Von sämtlichen Verdächtigen halten wir Videobeweise zu ihren Straftaten in den Händen. Diese Menschen sind nicht gesellschaftsfähig. Wir müssen eines jetzt klarstellen, weil es der Ministerpräsident von Sachsen nicht tut: Der Rechtsextremismus gehört nicht zur politischen Kultur der Bundesrepublik. Er ist - auch wenn man ein anderes Bild gewinnen könnte - kein Bestandteil der demokratischen Debatte. Wir müssen ihn ächten. Ich habe zwölf Jahre politische Philosophie studiert, um das zu verstehen. Man kann nicht erwarten, dass diese Erkenntnis bei anderen weiter verbreitet wäre.
Aber Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer hat sich doch mehrfach und viel deutlicher als seine Vorgänger gegen Rechtsextremismus positioniert. Auch eine Koalition mit der AfD schließt er kategorisch aus ...
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer - zu dem fehlen mir echt die Worte.
Sie werfen den sächsischen Behörden "Staatsversagen" vor. Wollen Sie das mit "Soko Chemnitz" ändern? Oder ist es Ihnen lieber, wenn die Zivilgesellschaft aktiv wird?
Es wäre uns lieber, wenn die staatlichen Behörden ihren Aufgaben nachgehen und den Rechtsextremisten das Handwerk legen würden.
Wie viele Menschen haben denn die Denunziationsfunktion auf der Internetseite benutzt?
Die Resonanz ist überragend. Wir haben am Mittwoch die Drei-Millionen-Besuchergrenze geknackt. Dies ist unser erfolgreichstes Projekt. Und ich kann mich glücklich schätzen, dass es tiefgreifender zum Erhalt einer weltoffenen und antiautoritären Bundesrepublik beitragen dürfte, als die meisten anderen unserer Projekte. Wir haben gestern die ersten drei Informanten ausbezahlt. Die Hinweise waren derart valide, dass wir sie an die Strafverfolgungsbehörden weiterleiten können. Bei den Informanten handelt es sich nicht gerade um lupenreine Demokraten, wenn sie verstehen, was ich meine: Dem Nazi-Kumpel scheinen 100 Euro auszureichen, um seinen besten Freund zu verpfeifen.
Sie haben sich an vielen Punkten offenbar absichtlich in eine rechtliche Grauzone begeben beziehungsweise Grenzen überschritten, etwa mit der Verwendung des geschützten Logos "So geht sächsisch". Inwiefern planen Sie juristische Reaktionen als eine Art Feedback oder Teil der Kunstaktion ein?
Wir werden die Sächsische Landesregierung bekämpfen. So, wie sie es machen, geht sächsisch nicht. Der Innenminister und die Polizei haben ja auf unser Projekt härter und schneller reagiert als auf die Ausschreitungen Ende August. Der Innenminister wirft uns vor, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden. Wenn etwas den Zusammenhalt gefährdet, dann die kriminelle rechtsextreme Szene und ihre ganzen Mitläufer. Deren gesellschaftlichen Zusammenhalt greifen wir gerne an. Wer Hitler grüßt oder Ausländer verachtet, gehört gesellschaftlich isoliert. Dafür gibt es auch Artikel 18 des Grundgesetzes. Die deutsche Verfassung sieht - in engen Grenzen - den Entzug von Grundrechten vor. Das war in weiser Voraussicht und Rückschau auf die hoch organisierten Rechtsextremen der NSDAP geschrieben.
Bei der viel diskutierten Aktion "Holocaust-Mahnmal" schwang teilweise doch eine gewisse aktivistische Häme mit. "Soko Chemnitz" wirkt dagegen wesentlich durchdachter, ist vielschichtiger und greift von Videoüberwachung über Internet-Debattenkultur und Behördenversagen bis zu den Diskursschwierigkeiten vieler Linker im Umgang mit Rechts eine ganze Reihe von aktuellen Problemfeldern auf. Was lief in Bornhagen aus Ihrer Sicht nicht optimal, und was haben Sie daraus gelernt?
Wir erfinden uns eigentlich mit jedem Projekt neu. Diesmal geht es um den Kampf des Bildes, das von einer Stadt bleibt. Wir wollen mit Chemnitz nicht das verbinden, was mit Städten wie Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen oder Solingen verbunden ist. Wir wollen, dass Chemnitz zum Zeichen der Umkehr wird: Hier wurde der Bogen eindeutig überspannt. Und jetzt reichts. Wir haben alles gesehen. Und jetzt schauen wir mal, ob Eure Chefs wissen, dass ihr die Demokratie beseitigen und einen ultranationalistischen, neofaschistischen und völkischen Staat schaffen wollt. Es ist doch so: Vor drei Jahren hätten wir über solche Fantasien nur herzhaft gelacht. An diesen Punkt kehren wir jetzt gesamtgesellschaftlich mit einer Entnazifizierung zurück.
"Soko Chemnitz" spielt mit einer frappierend beiläufigen Selbstverständlichkeit auf Überwachungstechnologien an, um deren Bedrohlichkeit noch vor wenigen Jahren kontrovers gestritten wurde. Bei Ihrer Aktion spielt das aber fast keine Rolle, die Frage scheint nur noch zu sein, ob Privatleute Daten derart auswerten dürfen. Hatten Sie gehofft, auch an diesem Punkt eine Debatte anzustoßen?
Nein. Wir haben alle legalen Möglichkeiten ausgeschöpft, um aufzuklären.
www.soko-chemnitz.deKunst in Aktion
Bei der Aktionskunst wird versucht, direkt auf die Wirklichkeit einzuwirken. Herkömmliche Kunst kann lediglich im Betrachter eine Interpretation auslösen - und diesen darüber eventuell zu einer Interaktion mit der Realität bewegen. Aktionskunst versucht, diesen zu "Umweg" abzukürzen: Das Werk wird geschaffen, indem der Künstler mit Aktionen in der Realität selbst Reaktionen auslöst.
Ihren Ursprung hat diese Kunstform im "Wiener Aktionismus" der 1960er-Jahre. Dort versuchten Künstler wie Peter Weibel, Günter Brus, oder Hermann Nitsch, mit Provokationen Gesellschaftsverhältnisse aufzubrechen. Nitsch etwa wurde mit Bildern aus verschüttetem Tierblut bekannt, Brus mit "Körperanalyse" samt öffentlichem Defäkieren und Masturbieren.
Friedensreich Hundertwasser startete 1959 in Deutschland eine der ersten Kunstaktionen, indem er an der Hamburger Kunsthochschule eine zehn Kilometer lange "Endlose Linie" durch die Räume und über Möbel malte. In den 1970ern erlebte Aktionskunst in "Happenings" einen Boom. Für Kunstaktionen der Neuzeit ist vor allem Regisseur Christoph Schlingensief bekannt.
Das "Zentrum für politische Schönheit" (ZPS) wurde 2008 von dem Dresdner Philipp Ruch gegründet. Erklärtes Ziel der Gruppe von rund 70 Künstlern ist es, Gleichgültigkeit in der Gesellschaft zu durchbrechen. 2012 setzt das ZPS dazu Kopfgeld aus, um die Eigentümerfamilie des Panzerherstellers Krauss-Maffei einsperren zu lassen. 2015 versuchte die Gruppe symbolisch, im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge vor dem Bundeskanzleramt zu beerdigen. 2017 installierte das ZPS einen Nachbau des Holocaust-Mahnmals neben dem Haus des thüringischen AfD-Politikers Björn Höcke. tim