Warum man diesen unseligen Artikel 146 nach der Wiedervereinigung nicht gestrichen (per Gesetz natürlich und nicht mündlich durch James Baker bei Artikel 23 ) hat, erschließt sich mir auch nicht. Aber es ist ja möglich, dass der Bundestag eine Volksabstimmung zu einer neuen Verfassung zur Umsetzung von Art. 146 anberaumt
Artikel 146 des Grundgesetzes wird gern so gelesen, als ob er einen Auftrag, eine neue Verfassung zu erlassen, enthalte. Das kann ich dem Wortlaut nach nicht erkennen. In der Wirklichkeit ist ja auch nach der Wiedervereinigung nicht auf diesen Artikel zurückgegriffen worden.
Dennoch hat er einen guten Sinn, und zwar in mehrfacher Hinsicht:
Zunächst sagt er einfach nochmals, dass das GG zwar geändert werden kann, aber nicht einfach aufgehoben oder beiseite geschoben. Genau das geschah ja durch das Ermächtigungsgesetz von 1933 mit der Weimarer Verfassung: Sie wurde zwar nicht aufgehoben, aber letztlich weitestgehend suspendiert. Schon zuvor war durch verschiedene Notverordnungen des Reichspräsidenten, deren bekannteste die "Reichstagsbrandverordnung" ist, die Wirksamkeit der Grundrechte und vieler Verfassungsbestimmungen stark eingeschränkt worden. Das kann mit dem GG nicht so einfach gemacht werden: Artikel 79 verlangt erstens, dass der Wortlaut des Grundgesetzes geändert wird. Ein Gesetz, das gleichsam neben die Verfassung tritt, wie es mit dem Ermächtigungsgesetz 1933 geschah, ist somit nicht erlaubt. Weiter sind die wichtigsten Artikel des Grundgesetzes durch Artikel 79 von Änderungen ausgenommen. Dies betrifft die Menschenwürde (gegen Notverordnungen!), die Grundsätze aus Artikel 20 (gegen das Ermächtigungsgesetz) und den Bestand der Länder sowie der Gesetzgebungsbefugnis (gegen die Gleichschaltungsgesetze und das Gesetz über den Neuaufbau des Reiches). Drittens sind damit letztlich nur punktuelle Eingriffe ins Grundgesetz möglich, nicht aber eine Gesamtänderung.
An dieser Stelle kommt nun Artikel 146 ins Spiel: Er bestätigt erstens, dass das Grundgesetz nicht einfach aufgehoben oder beiseite geschoben werden kann, denn er bestimmt, dass es gilt, bis es durch eine neue Verfassung nahtlos abgelöst wird. Eine verfassungslose Zeit darf es also nach dem Grundgesetz nicht geben. Zudem muss diese neue Verfassung durch das gesamte deutsche Volk in freier Entscheidung beschlossen worden sein.
Damit wird nun klar gestellt, dass das Grundgesetz ablösbar ist. Allerdings kann es eben nicht einfach mal so ersetzt werden, sondern nur durch ein besonderes Verfahren. Die Entscheidung muss durch das gesamte deutsche Volk erfolgen. Dies verhindert auch, dass etwa willkürlich einem ganzen Teil der Bevölkerung das Wahlrecht entzogen wird, denn dann wäre es eben nicht mehr das gesamte Volk. Eine Volksabstimmung wird nun aber nicht ausdrücklich angeordnet. Welches Verfahren nun einzuhalten sei, müsste wohl durch ein Ausführungsgesetz bestimmt werden. Denkbar ist z. B. eine verfassunggebende Versammlung, die eigens gewählt wird, oder auch ein Zusammenwirken einer solchen Versammlung, deren Ergebnis aber von Bundestag und Bundesrat ratifiziert werden müsste. Eine Volksabstimmung scheint mir ebenfalls möglich.
Es gibt somit durchaus gute Gründe, warum dieser Artikel fortbesteht.
Artikel 23 alte Fassung hat übrigens nicht den Stellenwert, der ihm immer beigemessen wurde. Er hatte meiner Meinung nach immer nur deklaratorische Natur. Sein erster Absatz bestimmte, dass das Grundgesetz "zunächst" in den und den Ländern gelten sollte. Es handelte sich also um eine Art Überleitungsbestimmung. Mitnichten sollte dadurch der räumliche Geltungsbereich des Grundgesetzes festgeschrieben werden, im Gegenteil hegte man ja damals die Hoffnung, die Gebiete unter sowjetischer Besatzung würden bald auch beitreten, was dann aber nicht geschah.
Der zweite Absatz bestimmte, dass das Grundgesetz in anderen Gebieten nach deren Beitritt in Kraft zu setzen sei.
Das ist eine Binsenweisheit: Was, bitte schön, sollte mit der Rechtsordnung eines Staates geschehen, wenn diesem Staat ein neues Gebiet beitritt? Sollen dann die Gesetze dieses Staates auf dem beitretenden Territorium etwa nicht angewendet werden? Natürlich wird es in der Praxis immer Fälle geben, die eine Übergangslösung erforderlich machen, aber Beitritt bedeutet ja eben gerade, dass man auch zur Rechtsordnung eines Staates gehören will.
Ferner war Artikel 23 alte Fassung auch nicht die Rechtsgrundlage für den Beitritt der DDR. Denn in der DDR hat das Grundgesetz zweifellos nicht gegolten. Die Volkskammer der DDR konnte somit nicht Artikel 23 alte Fassung als Rechtsgrundlage ihres Beschlusses zum Beitritt zum Grundgesetz nehmen. Dies wäre schon rein logisch völliger Unsinn.
Daher war Artikel 23 alte Fassung im Grunde nichts weiter als eine Klarstellung und insofern deklaratorischer Natur.