Autor Thema: TAZ-Serie "Die Reichsbürger" - Willkommen im Deutschen Reich  (Gelesen 2309 mal)

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Offline Gutemine

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taz-Serie: Die Reichsbürger (Teil 1)
Willkommen im Deutschen Reich

Spinner, Rechte oder Abgehängte? Wieso Menschen die Bundesrepublik anzweifeln. Erkundungen in Milieus, in denen Demokratie erodiert.

BERLIN/POTSDAM/WITTENBURG taz | Die Dämmerung hat den Marktplatz, von dem der Wandel ausgehen soll, schon halb verschluckt. Rüdiger Hoffmann hat seinen Kombi direkt vor dem Rathaus geparkt und die mitgebrachten Banner ausgeladen. „Es reicht!“, steht darauf. „Raus aus der Diktatur.“

Wittenburg, ein Ort in Mecklenburg-Vorpommern. Ein kalter Wind hechelt um die Fachwerkhäuser. Hoffmann, ein unauffälliger Typ mit Brille und kurzen grauen Haaren, zieht seine Jacke um sich. Hinter ihm im Halblicht zeichnen sich die Silhouetten von einem Dutzend Leuten ab. „Hier stimmt etwas nicht. Immer mehr Menschen stellen Fragen“, sagt er. „Wieso ändert sich nichts? Wieso haben wir immer weniger Geld? Und immer mehr Probleme?“

Wie er es sieht, kommt langsam eine Wahrheit ans Licht, die lange unterdrückt worden ist: Dass es die Bundesrepublik nicht gibt, sondern nur ein dubioses Firmengeflecht, das sich als Staat tarnt. Und weil er so denkt, soll er ein Reichsbürger sein? Er fährt hoch, seine Stimme wird laut: „Bei den Leuten, die wirklich Fragen stellen, da wird gesagt: Das sind Reichsbürger. So etwas nennt man nationalsozialistisches Vorgehen. Weil man im Dritten Reich genauso die Juden angegangen ist.“

Schießereien in Bayern

Die kleine Kundgebung in Wittenburg ist ein Anzeichen dafür, dass etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Denn es geht in dieser Geschichte nicht nur um ein paar Eigenbrötler mit absurden Thesen, sondern um die Frage, warum die Ideologie der Reichsbürger verfängt. Der Begriff bündelt eine Vielzahl von Gruppen, die nur eins gemeinsam haben: die Überzeugung, dass das Deutsche Reich bis heute existiert, weil die Bundesrepublik kein legitimer Staat ist.
taz-Serie: Die Reichsbürger

Zitat
Zweimal innerhalb weniger Monate ist es zu Schießereien zwischen Reichsbürgern und Polizisten gekommen. Die Radikalität am Rand der Szene ist deutlich gewachsen, zugleich breitet sich ihre Ideologie immer stärker aus. Was sagt es aus, dass sich mehr und mehr Menschen aus der Bundesrepublik abmelden? Teil 2 nächste Woche: Schulungen, hier und dort: Wie Reichsbürger und Ämter sich gegeneinander wappnen.

Gerade erst machte die bisher gravierendste Konfrontation zwischen ihnen und dem Staat Schlagzeilen: Ein Sportschütze, der auf seinem Grundstück in Bayern seinen eigenen Staat ausgerufen hatte, eröffnete das Feuer, als die Polizei seine Waffen beschlagnahmen wollte. Ein Polizist starb, drei wurden verletzt. Erst im August kam es in Sachsen-Anhalt zu einer Schießerei, weil sich ein Reichsbürger bei einer Zwangsräumung gegen die Polizei Wehr setzte.

Michael Hüllen, Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Brandenburg, läuft durch die Flure des Innenministeriums in Potsdam, tippt einen Code in das Zahlenfeld einer Tür, das Schloss öffnet sich mit leisem Klick. Dann lässt er sich in einem engen Besprechungsraum nieder. „Reichsbürger alleine sind lästig“, sagt er, „aber wenn sie als Gruppe auftreten, werden sie oft hochaggressiv.“
Die Radikalität nimmt zu

Rund 300 von ihnen soll es in Brandenburg geben, hat der Verfassungsschutz ermittelt. Aber längst nicht jeder ist den Behörden bekannt. „Das Spektrum geht relativ weit“, sagt Hüllen, „und am Rand gibt es Leute, wo wir denken: Da kann was passieren.“ Die Radikalität der Szene nehme seit Jahren zu. Was ihm Sorgen macht, ist, dass die Ideologie in die Mitte der Gesellschaft einsickert: Er nennt die Reichsbürger ein „Zwischenspektrum“, das auf der einen Seite Normalbürger zu sich zieht, die das Vertrauen in den Staat verloren haben, und auf der anderen Anknüpfungspunkte für Neonazis bietet.
Thomas Patzlaff, Selbstverwalter

„Der Staat ist eine Fremdverwaltung, die uns verarscht. Weiter nichts“

Seit Längerem schon versucht Hüllen, die diffusen Strukturen des Milieus zu erfassen; er schaltet sein Laptop ein, ein Diagramm erscheint: Da sind die revisionistischen Gruppen, die im Rechtsextremismus wurzeln. Da sind regionale, unstrukturierte Milieus, Querulanten, gescheiterte Existenzen. Und da sind Milieumanager, die aktiv versuchen, den Staat zu destabilisieren. Unter dem Begriff erscheint auf dem Display ein Bild von Rüdiger Hoffmann.

Auf dem Marktplatz von Wittenburg wird es allmählich spät; Hoffmann spricht schnell, seine Gedanken springen wie Pingpongbälle von Thema zu Thema, von der Freimaurersymbolik auf den Euro-Scheinen zum Krieg in Syrien und der Ukraine. „Wir wollen in Frieden leben“, sagt er, „wir wollen unsere Heimat wiederhaben.“ Hoffmann war in den 90ern als Kreisvorsitzender in der NPD aktiv. Er wurde verführt, sagt er heute. In seinem Koordinatensystem ist es umgekehrt: Nicht er ist der Nazi. Deutschland setze die faschistischen Gesetze Hitlers fort.

Seine Anhänger vergraben die Hände tief in den Taschen; ab und an glimmt eine Zigarette. Im Internet gibt es eine Fülle von Videoclips, die zeigen, wie Reichsbürger Mitarbeiter in Finanz- oder Bürgerämtern massiv bedrängen. Wenn man Hoffmann danach fragt, schüttelt er den Kopf. „Das geht nicht“, sagt er. „Das verletzt die Menschen.“
„Das ist destruktiv“

Hoffmann sagt, weder er noch einer seiner Leute sei den Mitarbeitern der Stadt gegenüber je laut geworden. Bürgermeisterin Margret Seemann erzählt etwas anderes: „Die sind an Tagen in die Stadtverwaltung gekommen, an denen es keine Sprechzeiten gibt, gingen von Büro zu Büro. Einige wurden ausfällig.“ Sie hat Hausverbote erteilt, ihre Mitarbeiter fühlten sich bedroht. Sie selbst wurde von Hoffmann angezeigt, wegen Hochverrats und des Einschleusens von Flüchtlingen. „Wir kümmern uns um die Anliegen der Bürger“, sagt sie, „aber das sind keine normalen Anliegen, das ist destruktiv.“

Mit Reichsbürgern sprechen heißt, ihnen in ein Labyrinth zu folgen, in dem hinter jeder Biegung immer neue, bizarre Wendungen liegen. Historische Versatzstücke, politische Mythen und antisemitischen Theorien greifen ineinander. Wenn es den Staat nicht gibt, muss jemand anders die Fäden ziehen, und das sind meist das US-Finanzkapital oder Geheimlogen – Chiffren für das „Weltjudentum“.

Durch die Säulen des Brandenburger Tors in Potsdam treten zwei Männer in Anzügen, sie steuern im Touristenstrom auf ein Café zu. Thomas Mann und Bernd Weber sind Mitglieder der administrativen Regierung des „Freistaats Preußen“ – einer bundesweiten Gruppierung, die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wird.
In den Grenzen von 1914

Seit der Schießerei in Bayern stehen sie unter Druck: „Jetzt macht man eine generelle Hexenjagd auf unterschiedliche Gruppen, zusammengefasst und bezeichnet als Reichsbürger“, sagt Thomas Mann. „Dieser Vorgang ähnelt einer Zeit, da hat man Menschen stigmatisiert, indem man ihnen Sterne anheftete.“ Die zwei suchen sich einen abgelegenen Tisch. Das Reden übernimmt Mann, Weber sitzt still daneben. Es ist ihm wichtig, einige Dinge zurechtzurücken. Er lehne die Bundesrepublik nicht ab – aber man müsse sehen, was sie sei: „Eine Nichtregierungsorganisation. Eine auf Basis des Grundgesetzes von den Alliierten eingesetzte Verwaltung.“

Mann war früher bei der Bundeswehr, heute arbeitet er als Heilpraktiker. Er trägt Sakko und Krawattennadel, spricht in ruhigen, sortierten Sätzen. Aber wenn man seine Thesen anzweifelt, wird seine Stimme plötzlich kalt: „Wir machen das nicht, weil wir einen Kegelclub gründen wollten. Wir reden hier von völkerrechtlichen Fakten.“

Mann sieht sich und seine Mitstreiter als Verwalter eines neuen, besseren Deutschland. Seinen Personalausweis hat er abgegeben, er führt die Papiere mit sich, die der „Freistaat Preußen“ verkauft. „Das Deutsche Reich ist, wie vom Bundesverfassungsgericht bestätigt, nicht untergegangen, sondern durch die Alliierten handlungsunfähig gestellt worden.“ Das Deutsche Reich in den Grenzen von 1914, inklusive der einstigen Ostgebiete. Über Revisionismus wolle er nicht reden, „weil die Geschichte wird immer von den Siegermächten geschrieben“.
Der Selbstverwalter

Er lehnt sich zurück, sein Kaffee auf dem Tisch ist kalt geworden. „Wir haben ein Rechtssystem, das Willkür übt und ein politisches System, das Lobbyinteressen durchsetzt“, sagt er. „Deswegen kommen die Leute zu uns und fragen: Habt ihr etwas Besseres anzubieten?“

Viele, bei denen die Ideologie der Reichsbürger Gehör findet, sind in finanziellen Nöten. Oft fängt es damit an, dass sie die Zahlung von Steuern und Bußgeldern verweigern. In einer ruhigen Straße in Berlin-Wedding öffnet ein hochgewachsener Mann mit zerfurchtem Gesicht die Tür, auf seinem Briefkasten kleben Aufkleber: „Selbstverwaltung Thomas Patzlaff.“

Patzlaff, ein Langzeitarbeitsloser, 59 Jahre, hat vor ein paar Jahren den „Runden Tisch“ organisiert, ein Treffen Gleichgesinnter. „Wir wurden infiltriert und sabotiert“, sagt er. Heute betreibt er ihn nur noch als Internetplattform. Er sitzt auf seiner verblichenen Polstergarnitur, trinkt Filterkaffee wie Sprudelwasser. „Der Staat ist offenkundig eine Fremdverwaltung, die uns verarscht. Weiter nichts.“

Zu DDR-Zeiten arbeitete er als Elektriker, aber in dem Betrieb eckte er ständig an. Später versuchte er sich als Selbstständiger in der Gastronomie, auch das klappte nicht. Patzlaff zündet sich eine Zigarette an, starrt in den Rauch. Vor über zehn Jahren zeigte ihm ein Bekannter einen selbstgebastelten Reichs-Ausweis, da dachte er sich: „Das ist ja spannend.“ Er suchte Kontakte in dem Milieu, durchforstete Archive, stöberte im Internet. „Ich habe mir die Gesetze angeguckt und festgestellt, dass ein großer Teil davon nichtig ist“, sagt er. „Ich bin dann in den Widerstand gegangen.“

Patzlaff sieht müde aus, der ständige Ärger zehrt an ihm, die Gerichtsvollzieher, die Inkasso-Verfahren. Immer wenn es an seiner Tür klingelt, fährt ihm der Schrecken in die Knochen. „Die kommen immer wieder“, sagt er, „Ich belehre die, aber das wird ignoriert.“ Letztlich hält ihn nur noch der Glaube aufrecht, dass er den politischen Umbruch in Deutschland noch mitkriegen wird: „Ich hoffe, dass das noch zu meinen Lebzeiten passiert. Dass ein echter Rechtsstaat entsteht.“ Dann erst könne es endlich wieder aufwärtsgehen. Mit ihm und mit allem an deren.
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Offline Enzo

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Hab ich zwar schon unter Presseschnitzel gepostet, der Vollständigkeit halber dann nochmal hier.

 

Offline aargks

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Teil 2 "Reich an Papieren"
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taz-Serie: Reichsbürger (Teil 2)
Reich an Papieren

Spinner, Rechte, Abgehängte? Wieso Menschen die Bundesrepublik anzweifeln. Diesmal: Schulungen von Reichsbürgern und über Reichsbürger.

LEIPZIG/ COTTBUS taz | Der Weg zur Freiheit führt über die Bürokratie, über Schriftsätze und Paragrafen. Und weil es im Kampf gegen die Willkür feste Regeln gibt, kommt es auf jedes Detail an.

„Wir arbeiten nur mit Tinte“, sagt Peter Frühwald. Der Name muss in Blau geschrieben sein, darunter gehört ein Daumenabdruck in Rot. Dann, sagt Frühwald, ist die Lebenderklärung wirksam. „Damit erklären Sie der Struktur der Bundesrepublik, dass Sie Ihre Rechte wieder wahrnehmen.“

Frühwald, ein 56 Jahre alter Bayer mit Schnauzbart, sitzt mit ganzem Gewicht in eine Kunstledercouch versunken. Durch die Fenster hinter ihm ist der Leipziger Augustusplatz zu sehen, links die wuchtige Glasfront des Neuen Gewandhauses, rechts die Säulenfassade der Oper. Frühwald hat sich in einer Hotellounge eingerichtet. Er gilt als ein Vordenker des Reichsbürgermilieus, führt einen Blog, einen YouTube-Kanal und gibt Kurse. Deswegen ist er hier. Aus seiner Aktentasche zieht er Kopien, Schnellhefter voller Briefe, Vorlagen, die er ringsum verteilt. „Das alles“, sagt er, „können Sie so übernehmen.“

Durch die Flure der Arbeitsagentur Cottbus hastet ein Mann mit weißen Haaren und kompakter Statur. Es geht auf halb zehn zu; Hüllen ist spät dran. Er tritt in einen Raum, wo rund 50 Menschen warten; sie alle arbeiten in der Arbeitsagentur oder einem Jobcenter der Region. Michael Hüllen, Fachmann für Reichsbürger beim Verfassungsschutz Brandenburg, klappt seinen Laptop auf und knipst einen Projektor an; er hat seinen Vortrag schon oft gehalten; 3.000 Mitarbeiter von Behörden hat er bisher geschult.
„Es gibt einen Höhepunkt“

Seit etwa vier Jahren, sagt er, befasst sich der Verfassungsschutz mit den Reichsbürgern. „Und im Moment, das haben Sie sicher auch gemerkt, hat man das Gefühl, dass es bei dem Thema einen Höhepunkt gibt.“

Peter Frühwald und Michael Hüllen sind sich nie begegnet. Und doch sind sie durch einen Konflikt verbunden. Einen Konflikt, der sich deutlich zugespitzt hat: Auf der einen Seite stehen Mitarbeiter in Ämtern und Stadtverwaltungen. Auf der anderen Menschen, die den Staat und alle seine Vertreter ablehnen. Menschen wie Peter Frühwald.

Zweimal innerhalb weniger Wochen ist es nun sogar zu einem Schusswechsel zwischen der Polizei und Reichsbürgern gekommen, im August in Sachsen-Anhalt, im Oktober in Bayern. Dass Reichsbürger zur Gewalt greifen, ist die Ausnahme. Briefe, Faxe und Anrufe aus dem Milieu aber gehören in vielen Behörden zum Alltag. Hüllen geht es darum, den Teilnehmern ein Grundwissen zu vermitteln, damit sie nicht unvorbereitet sind, wenn sie es mit Reichsbürgern zu tun kriegen.
Etwa 70 Prozent der Fälle

Denn die kommen Immer häufiger selbst in die Behörden – und treten immer vehementer auf. Hüllen sagt, dass mehrere Ämter mit Notfallknöpfen und Sicherheitsschleusen ausgerüstet wurden. „Aber doch nicht nur wegen der Reichsbürger?“, fragt eine Frau. Hüllen hebt die Schultern: „Etwa 70 Prozent der Fälle, in denen es in den Behörden Probleme gab, hatten mit Reichsbürgern zu tun.“

Dann drückt er eine Taste auf seinem Laptop, an der Wand erscheinen Schaubilder. Die Szene ist zersplittert und zerstritten, etliche Königreiche, Freistaaten rivalisieren untereinander, alle mit dem Anspruch, den wahren deutschen Staat zu repräsentieren. „Ach, du liebes bisschen“, flüstert eine Frau mit Kurzhaarfrisur und Goldrandbrille.

Hüllen lässt einen Reichsausweis herumgehen. Er empfiehlt dringend, solche gebastelten Papiere grundsätzlich abzulehnen. „Wir haben gehört, dass in Cottbus zum Teil Fantasiepapiere anerkannt wurden.“ Er hat Videos im Internet gesehen, die zeigen, wie Reichsbürger Mitarbeiter von Behörden so drangsalieren, dass diese aus ihren Büros fliehen oder sich vor Angst einschließen. „Das geht natürlich nicht.“

Hüllen will erreichen, dass solche Bilder nicht mehr entstehen. Aber auch die Reichsbürger bieten Workshops und Seminare an. Peter Frühwald blättert in seinen Unterlagen hin und her, in Schreiben, die seinen Anhängern helfen sollen, sich gegen die Macht der Behörden zur Wehr zu setzen. Dazu gehört die Lebenderklärung, womit man bestätigt, weder „verstorben noch verschollen und nicht auf hoher See untergegangen“ zu sein. Man soll sie ans Standesamt schicken, „die müssen es weiterleiten an den Vatikan“.
Einfach abmelden aus der BRD

127 Euro kostet Frühwalds Schulung; an diesem Samstag hat Frühwald nur zwei Zuhörer; dass eine Reporterin darunter ist, weiß er nicht. Sonst ist nur ein recht junger Mann in schwarzem T-Shirt gekommen, der die meiste Zeit über schweigt. Frühwald sagt, zu seinen Kursen kommen nie viele Leute, manchmal sind es zwei und manchmal zehn. Aber er ist jedes Wochenende unterwegs, um seine Thesen zu verbreiten: Der Staat existiert nicht. Also kann es auch keine Behörden geben, die einem Vorschriften machen können.

Frühwald stammt aus Fürth und war früher in der CSU aktiv. Seit 2010 führt er die „Arbeitsgemeinschaft Staatliche Selbstverwaltungen“ an. Anders als andere Reichsbürger hat er also keinen eigenen Staat ausgerufen, sondern sich quasi aus der Bundesrepublik abgemeldet.

Frühwald ist kein geborener Redner, sein Vortrag mäandert stockend durch die Menschheitsgeschichte, er kommt vom Dreißigjährigen Krieg zum Wiener Kongress, von der Boston Tea Party zur türkischen Belagerung Wiens. Der junge Mann neben ihm verschränkt die Finger und lässt die Gelenke knacken. Den Deutschen, sagt Frühwald, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eine illegitime Verwaltung aufgezwungen.

Aber er kann auch einen Ausweg aus der Entrechtung aufzeigen: „Bei der Staatlichen Selbstverwaltung sind alle eingeladen. Wir brauchen Struktur und Masse, Leute, die sich abmelden und bei uns neu anmelden.“ Dazu sei es aber erforderlich, erst den Personalausweis zurückzugeben; der junge Mann neben ihm hat das bereits getan; er sagt: „Werden Sie ihn los. Der entrechtet Sie total.“
Ein Schreiben: 17 Seiten lang

Michael Hüllen klickt sich durch seine Powerpointpräsentation, lässt einen roten Lichtpunkt über Diagramme gleiten. Der Reichsbürger ist im Schnitt 51,3 Jahre alt, in 84,6 Prozent der Fälle männlich, seine Schreiben sind 17 Seiten lang. Eine füllige Frau in der letzten Reihe hebt die Hand. Zu den Menschen, die ihr Jobcenter betreut, zählt ein Reichsbürger. „Der macht uns das Leben schwer. Es kann ihn ja keiner hindern, zu kommen und Briefe zu schreiben, aber die sind wirklich sehr unangenehm.“

Hüllen nickt knapp. „Es gibt in diesem Bereich eine ganze Reihe unterschiedlicher Charaktere. Manche sind harmlos“, sagt er, „aber wir haben den Eindruck, dass in der Verwaltung der Druck zunimmt.“ Die Schreiben der Reichsbürger sollen dazu dienen, die Behörde lahmzulegen. In den USA hat sich für diese Methode der Begriff paper terrorism durchgesetzt.

Die Jobvermittlerin ganz hinten meldet sich erneut. Diese Briefe, sagt sie, seien ja nicht ans Jobcenter adressiert, sondern an sie: „Privatperson einer illegalen Behörde“. Die Frau atmet tief ein und aus. „Da steht, Sie werden strafrechtlich verfolgt nach Paragraf bumsfallera und haften mit Ihrem Privatvermögen.“ Eine Kollegin habe so ein Schreiben in ihrem Briefkasten zu Hause gefunden – der Reichsbürger muss sie auf dem Heimweg verfolgt haben.

„Ich würde empfehlen, Anzeige zu erstatten“, sagt Hüllen.
„Entehrt“

Der Nachmittag bricht an in Leipzig; draußen ziehen Wolkenfetzen vorbei, in der Lounge des Hotels wechseln Licht und Schatten. Eine Gruppe Rentner hat sich am Nebentisch niedergelassen; Frühwald redet gegen ihr Gespräch an. Er will erklären, wie man um die Zahlung von Bußgeldern herumkommt. „Nun wollen wir uns mal anschauen, wie so etwas funktioniert“, sagt er. In einem der Hefter, die er ausgeteilt hat, ist ein Beispielfall zu finden; es ging um einen Strafzettel, den er erhalten hat, um einen Betrag in Höhe von 20 Euro.

Der Chef des Polizeiverwaltungsamts habe ihn durch die Forderung „entehrt“, sagt er: „Damit hat er im Handel von Mensch zu Mensch ein Vergehen begangen.“ Also schrieb er, er akzeptiere das Angebot der „Firma Polizeiverwaltungsamt“ – stellt aber eine Gegenforderung. 20 Millionen US-Dollar. In seiner Weltsicht ist nun nicht mehr er der Schuldner, sondern die Behörde. Frühwald hat rund ein Dutzend Erklärungen verschickt, Mahnungen, Inverzugsetzungen, Verpflichtungserklärungen.

Zwar hat die Behörde nie gezahlt. Andererseits sei es ihr aber auch nicht gelungen, das Bußgeld einzutreiben. Der Briefwechsel hörte irgendwann einfach auf. Frühwald wertet das als Sieg.
Konsens im Dissens

„Was soll ich tun, wenn ich jemanden in meinem Büro habe und werde den nicht mehr los?“ Eine schmale Frau mit blassem Gesicht schaut Hüllen an. Der Verfassungsschützer kann nur dazu raten, resolut aufzutreten und sich nicht in lange Debatten verstricken zu lassen. „Sagen Sie: ,Ich habe Ihre Meinung angehört. Ich habe eine andere Meinung.' Dann machen Sie von Ihrem Hausrecht Gebrauch.“ Konsens im Dissens“, so lautet die Strategie.

Gleich ist Mittagszeit. Eine Vermittlerin hat noch etwas loszuwerden: „Wir haben nicht die Wahl, wir können nicht sagen: Wir können mit denen nicht arbeiten.“ Auch sie hat es mit einem Reichsbürger zu tun, „meiner ist 37 Jahre alt. Den hab ich noch 30 Jahre in der Betreuung.“ Ihre Stimme ist hoch und zittert leicht. „Gegen den laufen diverse Klageverfahren, aber wir sind mit dem noch immer nicht weiter.“

„Werden Sie auch nicht kommen“, sagt Hüllen.

Er empfiehlt, die Polizei zu rufen, wenn die Situation bedrohlich wird. „Die Behörden in Brandenburg nehmen das Problem ernst“, sagt er, „das kann ich mit Fug und Recht sagen.“

Dann packt er seinen Laptop ein und greift seinen Mantel. Draußen stäubt Nieselregen über das Zentrum von Cottbus. Hüllen wird bald wieder eine Schulung abhalten, diesmal vor Bürgermeistern in der Prignitz. Auch Frühwald gibt auf seiner Website schon neue Termine bekannt, fast an jedem Wochenende, in Leipzig, Mönchengladbach oder Duisburg.
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Teil 3 "Der Mann im Teufelsmoor"
https://www.taz.de/taz-Serie-Die-Reichsbuerger-Teil-3/!5356086/
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taz-Serie: Die Reichsbürger (Teil 3)
Der Mann im Teufelsmoor

Jo Conrad ist der Talkmaster der Reichsbürger. Bei Bewusst.tv gibt es keine Gewissheiten, nur Mythen und Spirituelles. Dem Publikum gefällt's.

WORPSWEDE/BERLIN taz | Jeder Schritt führt weg aus der Wirklichkeit, mit jedem Meter nimmt eine Parallelwelt Form an, in der nichts ist, wie es scheint. Ein hochgewachsener Mann, Asketengesicht, 58 Jahre, flaniert ins Teufelsmoor. Er hält inne. Ein klarer Himmel spannt sich über Wiesen, Marschen und Bäume, die wirken wie hineinaquarelliert in dieses braungrüne Stillleben. Jo Conrad hat diesen Ort ausgesucht, um sich als naturverbundener Denker in Szene zu setzen. Er sagt, es müsse doch erlaubt sein, Fragen zu stellen. Gibt es kosmische Gesetze? Gibt es Außerirdische? Gibt es HIV? Ist die Bundesrepublik ein Staat? Für ihn hängt das alles zusammen, Ufos und Chemtrails, die Lügen der Pharmaindustrie, der 11. September.

Denn wenn wir manipuliert werden, wer weiß dann, was wirklich ist und was nicht? „Man kann einzelne Themen nur begreifen, wenn man sieht, dass hinter den offensichtlichen Strukturen noch andere Strukturen sind“, sagt er. Das Fragenstellen ist sozusagen Conrads Geschäftsmodell. Er kann davon leben, „bescheiden“, wie er sagt. Er hat Bestseller geschrieben.

Jo Conrad zählt zu den führenden Verschwörungstheoretikern in Deutschland. Zum harten Kern der Reichsbürger gehört er nicht. Anders als die Vordenker des Milieus konstruiert er keine juristischen Fiktionen, er überschüttet seine Zuhörer nicht mit vermeintlichen völkerrechtlichen Belegen, dass die Bundesrepublik gar nicht existiere. Es gibt unter den Reichsbürgern zahllose Gruppen, die Szene ist atomisiert und zerstritten. Aber alle nutzen alternative Medienangebote. Jo Conrad betreibt den Onlinekanal Bewusst.tv. Dort waren alle namhaften Vertreter zu Gast, Staatenlose, Selbstverwalter, selbsternannte Könige, Reichskanzler.

Das Wort „Reichsbürger“ lehnt er ab. „Ich würde eher sagen, es ist eine Souveränitätsbewegung. Menschen suchen nach gesetzlichen Grundlagen und gucken: Wo findet Entrechtung statt? Und wie kann man sie rückgängig machen?“ Er schreitet an einem Fluss entlang, Hände in den Taschen, Laub raschelt. Auf seiner Website stehen mehr als 600 Folgen Bewusst.tv; stets ist die gleiche Kulisse zu sehen, ein Studio mit blauen Wänden, zwei rote Sessel, ein runder Tisch. Dort empfängt er Wunderheiler, Ufologen, Weltverschwörungsideologen. An diesem Tag aber will er es nicht zeigen. Stattdessen also das Teufelsmoor.
Systemhörigkeit und Misstrauen

Conrad ist misstrauisch. Während des Gesprächs lässt er ein Band mitlaufen. „Die Medienlandschaft ist heute weitgehend systemhörig“, sagt er, „wirkliche Kritik kommt nur von Nichtetablierten.“ Also von Menschen wie ihm. Deutschland, sagt er, bewege sich in Richtung einer von Machtinteressen bestimmten Gesinnungsdiktatur. „Die Medien benutzen den Begriff Reichsbürger, der eine Schubladen-Wirkung haben soll, damit sich keiner intensiver damit befasst.“ Dies sei umso deutlicher geworden, als ein Anhänger des Milieus vor wenigen Wochen in Bayern das Feuer auf ein SEK-Kommando eröffnete und einen Polizisten erschoss. Conrad fragt: Ist er wirklich tot? Wie sicher ist das, was geschehen ist?

Wer sich mit Conrad unterhält, fühlt sich wie nach einem Sturz durch einen Kaninchenbau in ein Land, wo es keine Gewissheiten gibt, sondern nur noch politische Mythen, spirituelle Bruchstücke und Neuzeit-Legenden. Gerade deswegen spiele er für das Milieu der Reichsbürger eine Schlüsselrolle, sagt Jan Rathje, Mitarbeiter der Amadeu Antonio Stiftung, Autor der Broschüre „Wir sind wieder da. Die ,Reichsbürger' “. Rathje sagt: „Jo Conrad stellt mit seinen Sendungen bei Bewusst.tv eine Plattform bereit, auf der er wirklich jeden zu Wort kommen lässt. Damit schlägt innerhalb des Milieus eine Brücke zwischen Reichsideologen, Esoterikern und anderen Verschwörungsideologen.“

Conrad stamme aus der rechtsesoterischen Szene, arbeite mit Holocaust-Leugnern zusammen und trage zum Transfer antisemitischer Inhalte bei. „Er verkauft sich als open-minded, aber er ist das Gegenteil eines kritischen Geistes, weil er auch widersprüchlichen Aussagen seiner Gäste zustimmt, wenn sie in sein antisemitisches Weltverschwörungsbild passen.“
Juden und ihre „Wirtsländer“

Auch die Hamburger Innenbehörde hat Conrad in der Broschüre „Brennpunkt Esoterik“ vorgeworfen, mit „antisemitischen Klischees“ zu argumentieren. Er beziehe sich in seinen Büchern auf die „Protokolle der Weisen von Zion“, eine antisemitische Fälschung, an einer Stelle sei vom Einfluss der Juden auf ihre „Wirtsländer“ die Rede.

Spricht man Conrad darauf an, verschließt sich sein Gesicht. „Laut Voltaire bedeutet Meinungsfreiheit, das Recht zu haben, auch Meinungen äußern zu dürfen, die man selber ablehnt und verabscheut“, sagt er. Mit dem Vorwurf Antisemitismus werde jeder Dialog blockiert. „Eine differenzierte Auseinandersetzung ist dann nicht mehr möglich.“

Er kommt an einem Bootssteg vorbei, schweigt eine Weile und lauscht seinen Worten nach. Hinter ihm rumort ein Gärtner mit einem Laubsauger; sonst regt sich nichts. Jo, eigentlich Johannes Conrad verließ die Schule ohne Abschluss, fing eine Ausbildung als Fotograf an, brach sie ab. Zehn Jahre lang machte er Fotos für Kalender, fuhr Taxi, komponierte. Im Offenen Kanal Bremen moderierte er eine Show. Bewusst.tv hat er 2010 gegründet.
Die Kritik driftet ab

Jo Conrad ist kein Wirrkopf; er spricht mit ruhiger Stimme, ohne große Gesten. Mitunter scheint das, was er sagt, gar nicht unvernünftig: Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um zu finden, dass der Einfluss von Wirtschaftslobbyisten zu groß ist. Aber dann driftet er in Bereiche, die klingen wie der Stoff für Wühltisch-Literatur: Außerirdische haben die Menschheit unterwandert, Aids ist eine Erfindung der Pharmaindustrie, Flugzeuge versprühen Gifte. Und im Hintergrund agieren Geheimlogen, die nach Weltherrschaft streben. „Uns wird vorgespiegelt, dass wir eine freiheitlich-demokratische Grundordnung haben. Das ist eine Farce, wenn man sieht, wie Interessengruppen ihre Machtspiele vorantreiben.“

Ist das noch Kapitalismuskritik oder schon esoterische Phantasterei? Oft ist nicht ganz durchsichtig, wo Conrad steht. Fest steht nur, dass er viel Zustimmung findet. Sein Buch „Entwirrungen“ ist in zehnter Auflage erschienen. Die Bewusst.tv-Sendungen erreichen auf YouTube 30.000, 40.000 Klicks. Fangruppen haben sich formiert, „Bewusst-Treffs“, in Baden-Baden, in Wuppertal, sogar auf Bali. „Ich sage nicht: Ich hab die Wahrheit gepachtet“, sagt Conrad, „sondern ich suche sie und hinterfrage alles.“

Damit steht er auch für den Umbruch, der die gesamten Medien erfasst hat: Noch nie waren so viele Informationen verfügbar wie heute, noch nie hatten so viele Menschen die Möglichkeit, zu verbreiten, was sie für wahr halten. Im Internet rivalisieren Fernsehkanäle, Blogs und Foren; jeder kann Quellen finden, die seine Weltsicht bestätigen.
„Man ist ein normaler Mensch, der Antworten will“

Wer wissen will, warum mancher lieber Bewusst.tv guckt als die ARD-Nachrichten, kann Hanne Feibig fragen. „Jo lässt auch Leute zu Wort kommen, die bei den öffentlich-rechtlichen Medien nicht berücksichtigt werden“, sagt sie, „ich habe dann die Möglichkeit, mir eine eigene Meinung zu bilden.“ Im Fernsehen dagegen würden Fakten zurechtgedreht; Raum für kritische Stimmen gebe es nicht. Feibig sitzt in einem Restaurant in einer ruhigen Siedlung in Berlin-Schönefeld, trägt dicken Silberschmuck und viel Kajal um die Augen. Auf ihrem Handy steht: „Look at the Sky. Stop Chemtrails.“

Sie wuchs in der DDR auf, hat früher eine Gaststätte, dann ein Kosmetikstudio geführt; heute stockt sie ihre Witwenrente mit Hartz IV auf. „Man ist ein normaler Mensch, der einfach Antworten will“, sagt sie; aber gerade damit ecke man überall an. Hanne Feibig informiert sich schon seit Längerem nur noch in alternativen Medien, Bewusst.tv schaut sie nicht immer, aber regelmäßig: „Was mich bei Jo anspricht, ist seine Natürlichkeit.“ Er verhaspele sich auch mal und trete seinen Gästen ohne persönliche Wertung gegenüber. „Das ist, was einem den Eindruck gibt, dass er völlig authentisch nach Informationen sucht.“

Am späten Nachmittag kommt Wind über dem Teufelsmoor auf; die Sonne wird schwächer. Jo Conrad setzt sich in sein Auto und steuert ein Café in Worpswede an. Über Apfelkuchen und Kaffee sammelt er seine Gedanken. „Ich würde mir Politiker wünschen, die weise und liebevoll sind“, sagt er, aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Für ihn ist es daher kein Wunder, dass Menschen an der Legitimität der Bundesrepublik zweifeln: „Dass die Menschen gucken: Ist das ein Staat? Hat der hoheitliche Rechte? Das würden die ja gar nicht machen, wenn in diesem Land alles in Ordnung wäre.“
Ein basisdemokratisches Fürstentum

Als sich 2009 in einem baufälligen Schloss in Brandenburg das „Fürstentum Germania“ formierte, war auch er dabei. Die Minination zerstreute sich, als der Landkreis das Haus räumen ließ. Aber das Thema hat für ihn nicht an Bedeutung verloren, im Gegenteil: „Ich glaube, dass die Fehler im System immer deutlicher sichtbar werden.“ Conrad sagt, „Germania“ sollte Gegenentwurf sein, ein besseres Deutschland. Ein Phantasialand für Erwachsene

„Die Hoffnung war, dass man einen kleinen Bereich schafft, wo die Menschen souverän leben können, ohne drangsaliert zu werden. Dahinter stand der Wunsch, dass man basisdemokratisch entscheiden kann: Wie wollen wir leben?“ Auch das ist, wie vieles, was Conrad äußert, nur eine Frage.
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Offline A.R.Schkrampe

Der Artikel macht den Eindruck, sorgsam recherchiert zu sein. Schön.

...was angesichts zu vieler bisheriger fachlich arg holpriger  Mainstreamlügenpresseberichte die Frage aufdrängen läßt, ob es sonnenstaatliche Federführungsunterstützung gegeben hat.
 

Offline aargks

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Teil 4 "Mann ohne Land"
https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5355606&s=reichsb%C3%BCrger/
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taz-Serie: Die Reichsbürger (Teil 4)
Mann ohne Land

D. S. ist ein Eigenbrötler, begeistert von Chemie. Mit den Reichsbürgern hat er gebrochen. Seinen Platz gefunden hat er in diesem Land nicht.

BERLIN taz | Am Nachmittag eines grauen, diesigen Herbsttags balanciert D. S., ein dünner Mann mit müden Augen, über eine Metallplanke auf ein Schiff, das an einem Fluss am Rand von Berlin liegt. Es ist bereits dunkel. Er trägt Schuhe mit hohen Absätzen. Im Schwarz unter ihm schwappt eiskaltes Wasser.

Mit dem Schiff verbindet sich sein Plan. Sein neues Leben, wenn es gut geht. Sein Name soll nicht in der Zeitung stehen, nur seine Initialen, sonst könnte man ihn googeln. „Ich bin ein Fluchttier“, sagt er, „ich gehe Konfrontationen aus dem Weg. Deshalb auch das mit dem Schiff.“ Im Internet hatte er nach Möglichkeiten gesucht, wie er der Aufsicht der Ämter entgehen kann. So kam er auf das Thema Schiffsrecht. Aber seine Existenz aufs Wasser zu verlegen brauchte Zeit. Also googelte er weiter. Das war 2010.

Vier Jahre später wurde er zu einer Chiffre für die Gefahr, die von Reichsbürgern ausgeht. Dazwischen liegen Razzien, eine Einweisung in die Psychiatrie, ein Prozess und eine Geschichte wie eine Mischung aus McGyver und Kafka. Sie handelt von einem Mann, der zwischen Behördendruck und Reichsbürgerideologie fast zermahlen wurde.

„Ein Angehöriger eines Phantasiestaates hortete bis Mitte 2012 auf seinem Grundstück in Neukölln Sprengstoff.“ So steht es in einem Reichsbürger-Infoblatt der Senatsverwaltung für Inneres. Die Rede ist von D. S. Die Polizei hatte bei ihm zehn Kartons mit je 500 Sprengstoffkapseln und 127 Bodenleuchtkörper gefunden, alles in allem eine Explosivstoffmasse von 300 Kilo.
Chemikalien wie Preziosen

„Ja, und?“, sagt S. Er steigt nun in den Bauch des Schiffs. Drinnen ist es weit und kühl wie in einer Kathedrale. Von beiden Seiten drängen sich Regale, Kisten, Behälter so dicht, dass nur ein schmaler Gang frei bleibt. S. zieht einen flachen Quader aus einer Box. „Gucken Sie sich das mal an“, sagt er, „der Plattensatz einer Taschenplattenbatterie aus den 70ern. Die Laufzeit beträgt weit über 100 Jahre.“ Diese Batterien sind für ihn etwas Faszinierendes. Aber die Behörden werfen ihm illegale Abfalllagerung vor. „Abfälle sagen die!“, ruft er fassungslos.

Alles hier ist für ihn kostbar. S. hat bereits vieles verloren. All die Dinge, die er angesammelt hatte. Wertvolle Chemikalien, beschlagnahmt und entsorgt, ein Fass voll Fluocinolonacetonid, ein Schaden von, sagt S., zwei Millionen Euro. Wenn es um die Materialien geht, liegt in seiner Stimme ein großer Schmerz. Er klettert wieder nach oben. Ein kalter Wind schneidet übers Ufer. S. zieht seinen Mantel um sich. Er steuert ein Vereinslokal an. Zwei Männer trinken Bier am Tresen. S. bestellt heißen Kakao und überlegt, wie er anfangen soll.

„Reichsbürger“, sagt er, „ich wusste gar nicht, was das ist.“ D. S., 43 Jahre, hatte in Neukölln ein Grundstück gekauft. Von dort führte er einen Großhandel für Chemikalien. Er lebte auch dort, mit seiner Freundin, die 30 Jahre älter ist. S. sagt, er stand schon immer auf ältere Frauen. Hillary Clinton etwa, die findet er attraktiv. „So Muttchen. Da fühle ich mich gut aufgehoben.“

Im Auftrag von Insolvenzverwaltern räumte S. stillgelegte Fabriken aus. Er kaufte Materialien auf, die er darin fand. Auch als Pyrotechniker arbeitete er. „Fachlich hat mir bisher keine Behörde etwas vormachen können“, sagt er. Das ist ein Teil des Problems. S. sagt, das Bezirksamt Neukölln habe immer neue Nachweise gefordert. Wie ist sein Lager eingerichtet? Ist sein Grundstück dafür geeignet?
Hoffnung bei den Reichsbürgern

Als wegen einer Ordnungswidrigkeit ein Verfahren in Gang kam, geriet er in Bedrängnis. Da stieß er im Internet auf eine Seite, auf der er las, dass die Bundesrepublik kein legitimer Staat sei und dass ihm die Behörden nichts vorschreiben könnten. Er nahm die Begriffe von der Seite, googelte und landete auf der Seite von Peter Frühwald, der das Konzept „staatliche Selbstverwaltung“ propagiert. Demnach kann man sich quasi aus der Bundesrepublik abmelden. Eine Hoffnung. „Ich hab von dem Zeug keine Ahnung. Man kann mich nach dem Kreislaufwirtschaftsgesetz fragen, nach der Strahlenschutzverordnung. Aber von Politik und Recht hab ich keinen Plan.“
Damit steht S. ’ Schicksal für dieses Milieu, das als Auffangbecken für viele gilt: Trittbrettfahrer, insolvente Unternehmer, Menschen mit Steuerschulden. Aber auf der anderen Seite knüpfen auch Neonazis an die Szene an. S. ahnte davon nichts. Er belegte ein Seminar bei Frühwald. Die Leute, die er dort traf, seien keine Rechten gewesen, darunter ein Mann, der Probleme mit dem Jugendamt hatte. Ein Nudist, der nackt wanderte und eine Anzeige kassierte. Ein Transsexueller, dem die Krankenkasse Probleme machte. „Solche Leute waren da. Weil da Freaks waren, fühlte ich mich richtig.“

Aber damit begann sich eine Spirale zu drehen, in der es immer schneller nach unten ging: S. feuerte seinen Steuerberater, weil er glaubte, dem Finanzamt nichts zu schulden. Auf seinem Grundstück stellte er ein Schild auf: „Republik Freies Deutschland Hoheitsgebiet.“ Er schickte den Behörden Briefe voller Paragrafen. Vordrucke, die Frühwald ausgehändigt hatte. Eine Antwort erhielt er nie. Das spornte ihn an. „Wenn mit mir einer nicht diskutiert, komme ich damit nicht klar.“ So kam das eine zum anderen, Bußgeldbescheid, Mahnungen, die Androhung von Erzwingungshaft. S. widersprach, argumentierte, schließlich soll er gedroht haben, massiv. Deshalb musste er sich vor Gericht verantworten. S. sagt: „Man hat alles getan, um mich zu kriminalisieren und zu psychiatrieren.“
„Er hat geniale Züge“

Rainer Teschner-Steinhardt, Leiter des Umweltamts Neukölln, hatte D. S. häufiger im Büro. „Er hat geniale Züge“, sagt er, „aber sein Gesamtauftreten ist merkwürdig. Wir haben eine Sachverständigenprüfung auf seinem Gelände angeordnet, und in der Folge hat er uns mit unglaublich viel Papier überhäuft.“ Seine Behörde habe unter Zugzwang gestanden, das Landeskriminalamt ermittelte. „Die ganze Situation war unübersichtlich. Man war sich nicht sicher, was dort überhaupt lagert. Es gab Behälter ohne Aufschrift und Stoffe, deren Verfallsdatum abgelaufen war.“ Möglich, dass S. sich noch zurechtgefunden hat. „Aber von außen sah das Gelände verwildert und chaotisch aus.“ 400.000 Euro habe die Räumung den Bezirk gekostet.

D. S. sitzt ganz still in der Gaststätte, alles glitzert, die Silberfäden in seinem Kleid, die Perlen in seinen Ohren. Von den Drohungen, weswegen er angeklagt war, sind nur Bruchstücke überliefert. Im Telefonat mit einer Mitarbeiterin des Amtsgerichts sollen die Worte „gnadenlos vollstrecken“, „auslöschen“ und „Nazizeit“ gefallen sein. S. streitet das ab. Er räumt aber ein, eine Mail ans Bezirksamt Neukölln gesandt zu haben: „Im Fall eines Angriffs wird Gewalt unglaublicher Härte gegen alle Beteiligten eingesetzt.“ „Das ist provokativ gewesen“, sagt er, „Ich war ein bisschen sauer. Und übermüdet. Es war unglücklich formuliert.“

S. wuchs in Ostberlin auf, ein hochbegabter Schüler, der in Chemie und Physik brillierte. Er machte eine Lehre zum Mess- und Regeltechniker. Danach bildete er sich fort im Bereich Sprengstoffe und Industriechemie. Er wirkt, als habe er sich wund gerieben an all den Kämpfen. Was nun noch hinzukommt: Seine Freundin ist 73, sie wurde in ein Pflegeheim eingewiesen. S. kann nicht davon sprechen, ohne zu weinen.
Nicht schuldfähig

Im April 2013 wurde bei ihm eine wahnhafte Störung diagnostiziert. S. sagt, Anhänger von Frühwald hätten ihm vorgegeben, was er dem Gutachter sagen soll. Also trug er Reichsbürger-Thesen vor. Er wurde in die Klinik des Maßregelvollzugs eingewiesen. Zu Prozessbeginn war er weg. Ausgebrochen. „Ich hab ’ den Code des Schlosses extrahiert und dann aus dem Teil einer Plastikflasche, einer Büroklammer und dem Teil eines Kugelschreibers einen Generalschlüssel gebaut.“ Monate später wurde er in Polen aufgegriffen. Das Landgericht sprach ihn im Mai 2014 frei: nicht schuldfähig.

S. senkt den Blick; wie er es sieht, haben die Behörden seine Existenz absichtlich vernichtet: Er hatte eine Genehmigung für die Lagerung von Pyrotechnik. Bloß war das, was die Polizei bei ihm fand, weit mehr, als er hätte haben dürfen – das ist die Version der Behörden. „Es war so zulässig“, sagt S., „es wurde ja nicht gelagert, sondern befand sich im Arbeitsgang.“ Dafür gelten andere Grenzen.

Es gibt keinen Hinweis, dass die Behörden gegen Recht verstoßen haben. Und doch bleibt der Eindruck, S. wurde Unrecht getan. Mit den Reichsbürgern hat er gebrochen. „Das sind Betrüger, die nutzen die Notlagen von Leuten aus.“ Frühwald hatte ihn an einer schwachen Stelle erwischt; er stellte in Aussicht, dass ein anderes Land möglich sei, eines, in dem es einen Platz für Menschen gibt wie ihn.
Der Traum von einer besseren Republik

„Man wollte auf dem Gebiet der Bundesrepublik etwas Soziales machen. Etwas Menschliches. Damit haben sie die Leute geködert. Nicht mit irgendwelchen Reichs-Ideen.“ Er fragt sich manchmal, warum es für Menschen wie ihn keine Hilfen gibt. Hätte ihm einer gesagt: Passen Sie auf, Sie sind auf eine obskure Gruppe reingefallen, dann hätte er sich was anderes einfallen lassen, sagt er. So aber nahm die Eskalation ihren Lauf.

S. ist ein Sonderling. Aber gefährlich? Er lächelt traurig. „Ich bin ein hochsensibler Mensch. Ich kann mit Gewalt nichts anfangen. Ich komme ja nicht mal mit jungen Frauen klar, weil die mir zu quirlig sind.“ Was er sich wünscht, ist Ruhe.

Dann läuft er noch einmal zum Schiff, holt sein Laptop. Er will ein Feuerwerk zeigen, das er an Silvester aufgebaut hatte. S. schaut auf das Video. Vor ihm explodieren Feuerspiralen, alles verschwimmt im gleißenden Licht. Zum ersten Mal wirkt er gelöst.

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