Okay, dann wollen wir mal.
Die Behauptung lautete, dass im Kommentar zur Hessischen Verfassung von Zinn und Stein auf S. 55 stehe:
Das Land Hessen ist nicht nur ein Gliedstaat der BRD, sein Gebiet ist zugleich Teil des Deutschen Reiches.
Ich habe die Originalausgabe des Kommentars vor mir auf dem Tisch liegen. Die korrekten und vollständigen bibliographischen Angaben sind:
Zinn, Georg A./Stein, Erwin (Hrsg.) 1954: Die Verfassung des Landes Hessen. Kommentar, Verlag Dr. Max Gehlen, Bad Homburg v.d.H./Berlin. Da auf dem sogenannten „Schmutztitel“ keine Auflagenzahl angegeben ist, habe ich die erste Auflage. Zudem steht hier „Erster Band“. Da bei der Quellenangabe der Behauptung aber nicht auf eine Bandnummer verwiesen wird, nehme ich an, dass der erste Band gemeint ist.
Frage:
Steht überhaupt das drin, was behauptet wird? Kurze Antwort:
Nein. Im angegebenen Abschnitt „Die vorkonstitutionelle Periode nach dem Zusammenbruch“, welcher auf S. 54 beginnt, steht auf nichts dergleichen. Auf der angegebenen S. 55 findet sich ein kurzer historischer Abriss, wie es nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 weiterging. Hier wird zunächst allgemein auf das Potsdamer Abkommen verwiesen, die Befugnisse Militärregierung erklärt und wie die Zonengrenzen gezogen wurden. Dann wendet sich der Kommentar wieder Hessen zu und erläutert, wann Prof. Bergsträßer (Regierungspräsident der Provinz Starkenburg) von der amerikanischen Militärregierung die Regierungsgewalt übertragen wurde. Die Seite endet mit:
Das nächste Ziel der Besatzungspolitik bestand in der Schaffung von Ländern, die zunächst noch autoritär regiert wurden. Durch die Prokl. Nr. 2 der amerik. Mil.Reg. wurden die Ländern Bayern, Groß-Hessen und Württemberg-Baden gebildet. Am 16.10.1945 wurde im Landeshaus […]
Auf Anfrage bin ich gerne bereit, die Seite 55 als Scan zum Beweis zur Verfügung zu stellen.
Aber es gibt noch mehr interessante Punkte in diesem Kommentar. Ich habe - entgegen unserer Kundschaft - noch ein bisschen weiter gelesen. Ich gebe gerne einige Zitate zum Besten.
[…] Die grundsätzliche Frage, ob man sich angesichts der Abhängigkeit der deutschen Innenpolitik von der jeweiligen Besatzungspolitik, insbesondere des Vorranges des Besatzungsrechts vor jedem deutschen Verfassungsrecht, und der allgemeinen Gleichgültigkeit weiter Kreise der unter den Zeitnöten leidenden Bevölkerung auf ein Organisationsstatut beschränken sollte, wurde verneint. Von dem Erlaß einer echten Verfassung erwartete man eine größere Unabhängigkeit von der Besatzungsmacht und die allmähliche Entwicklung einer demokratischen Staatsgesinnung. Einmütig war das Bekenntnis zum Reichsgedanken; Hessen sollte ein Glied der deutschen Republik sein.
Es ist klar erkennbar, dass das Zitat dort nicht so steht wie behauptet. Im Gegenteil: Es steht ausdrücklich da (S. 59), dass die Verfassungsväter wollten, dass Hessen ein Teil der deutschen Republik sein sollte“. Damit ist zu diesem Zeitpunkt (1946) irgendeine noch zu gründende deutsche Republik gemeint – die wurde 1949 ja dann auch gegründet. Lustigerweise verwenden Zinn und Stein hier den Begriff „Reichsgedanke“, der, wie der Nachsatz deutlich macht, keineswegs meint, dass man das „Deutsche Reich“ zurückwollte o.ä. Vielmehr wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass Deutschland aus den Ländern besteht und die Länder sich Deutschland bekennen, eben „Teile der deutschen Republik“ sind – egal, wie „Deutschland“ denn nun exakt heißt. Diese Interpretation findet sich auch später im Kommentar auf S. 85:
Die Feststellung, daß sich Hessen "als Gliedstaat der Deutschen Republik" diese Verfassung gegeben habe, bringt die Bindung Hessens an den fortbestehenden, wenn auch noch nicht handlungsfähigen Gesamtstaat zum Ausdruck.
Wir haben ja auch immer wieder das Argument, dass das Grundgesetz nicht gelte, weil es keine Volksabstimmung gegeben habe. Auch hier machen Zinn und Stein deutliche Ansagen unter der Überschrift „Das Verhältnis der Hessischen Verfassung zum Grundgesetz und der Weimarer Verfassung“ (S. 73):
Das Grundgesetz und die Verfassungen der Länder bilden zusammen erst die eigentliche Verfassung der Bundesrepublik. Die Bundesrepublik ist nicht durch den Zusammenschluß von unabhängigen Staaten entstanden; andernfalls wäre die Annahme und Ratifizierung des GG durch jedes einzelne Land nach dessen Verfassungsrecht notwendig gewesen. Art. 144 Abs.1 GG verlangt nur die Zustimmung durch die Volksvertretungen von zwei Dritteln der Länder, so daß das GG in Kraft treten konnte – und zwar auch in Bayern, obwohl der Bayerische Landtag die Zustimmung versagt hat. Die Staatsgewalt der Bundesrepublik leitet sich mithin nicht von den Ländern ab. Aber auch deren Staatsgewalt ist nicht derivativ. Bundesstaatsgewalt und Einzelstaatsgewalt entspringen originär dem pouvoir constituant des Volkes.
Im Abschnitt „Das Verhältnis Hessens zum Deutschen Reich, den früheren deutschen Ländern und den Übergangskörperschaften von 1945“ kommt dann auf S. 77 endlich der ersehnte Unterabschnitt „Der Fortbestand des Deutschen Reiches“. Dort lesen wir:
Trotz bedingungsloser Kapitulation ist Deutschland als Völkerrechtssubjekt und Staat nicht untergegangen. Ein solcher Untergang wäre nur eingetreten, wenn eine Annektion, eine Auflösung in unabhängige Einzelstaaten (Dissolution) erfolgt oder die gesamte Bevölkerung ausgelöscht oder ausgesiedelt worden wäre (Dismembration). Die Sieger haben keine dieser auf eine Vernichtung des Staates gerichteten Maßnahmen beabsichtigt und durchgeführt. […] Die Übernahme der obersten Regierungsgewalt durch die Alliierten war also die Folge der Handlungsunfähigkeit des Deutschen Reiches und nicht des Verlustes seiner Rechtsfähigkeit. […] Auch im Parlamentarischen Rat hat die Auffassung bestanden, daß Deutschland als Staat noch bestehe, weil alle Elemente eines Staates: Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt erhalten geblieben seien. […]
Weiter geht es im Abschnitt „Das Verhältnis der Bundesrepublik zum Deutschen Reich“ (S. 80):
An dieser Rechtslage hat sich durch die Errichtung der Bundesrepublik Deutschland nichts geändert. Durch die Bundesrepublik sollte nur eine provisorische staatliche Teilorganisation in einem größeren geschlossenen Staatsgebiet geschaffen werden; es sollte noch nicht endgültig ein neues staatliches Gebilde anstelle des Deutschen Reiches konstituiert werden.
Danach wird diskutiert, dass aufgrund der Gründung der DDR nur eine Teilidentität der BRD mit dem Deutsch en Reich bestehe etc. Jetzt kommt das, was manche gar nicht gerne lesen (S. 80f.):
Der provisorische Charakter der Bundesrepublik im Verhältnis zu Gesamtdeutschland steht weder ihrer Anerkennung als Staat noch der Anerkennung des Grundgesetzes als einer „Vollverfassung“ entgegen. Wenn auch der Parlamentarische Rat in Übereinstimmung mit der Auffassung der Ministerpräsidenten5 den Namen „Grundgesetz“ beibehielt, so ist das Grundgesetz nach seinem Inhalt und dem politischen Willen des Verfassungsgebers nicht nur ein Organisationsstatut, sondern der Verfassung eines souveränen, Staates gleichzuachten. Dieser Verfassungscharakter entspricht der politischen Selbstidentifizierung der Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich, die von der staatsrechtlichen Teilidentität zu unterscheiden ist. Den staatlichen Organisationen in der sowjetisch besetzten Zone und im Saargebiet fehlt die demokratische Legitimität, so daß die Bundesrepublik zu Recht den Anspruch erhebt, als einzige demokratisch legitimierte staatliche Teilorganisation für das gesamte deutsche Staatsvolk auch in der sowjetisch besetzten Zone und im Saargebiet sprechen und handeln zu können.
Zusammenfassend im Abschnitt „Das Verhältnis der Bundesländer zum Deutschen Reich“ (S. 82):
Besteht sonach für die Bundesrepublik - als Ganzes betrachtet – Teilidentität zum Deutschen Reich, so ist die Bundesrepublik doch nach ihrer inneren Ordnung im Gegensatz zur zentralstaatlichen Struktur des Deutschen Reiches ein föderativ gegliederter Organismus: Die Hoheitsrechte und Verwaltungsbefugnisse des früheren deutschen Einheitsstaates werden zum Teil von der Bundesrepublik als Oberstaat, zum Teil von den jetzigen Bundesländern wahrgenommen. Diese Verteilung der Kompetenzen ist im GG und dem zur Ausführung des GG neu erlassenen oder weiter geltenden Bundesrecht geregelt. Wieweit sich hieraus eine Rechtsnachfolge der heutigen Länder in Rechte und Pflichten des Deutschen Reiches, insbesondere eine Haftung für die Verbindlichkeiten des Deutschen Reiches ergibt, ist in erster Linie dem positiven Bundes- und Landesrecht zu entnehmen. Wo solche Vorschriften fehlen, bestimmt sich die Haftung der Länder für Verbindlichkeiten des Deutschen Reiches nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen; maßgebend ist hierbei insbesondere der ursprüngliche Zweck der Verbindlichkeit oder ihre Gebietsbezogenheit, insbesondere, ob der Anspruch aus staatlichen Funktionen erwachsen ist, die nun von den Ländern übernommen worden sind (Funktionsnachfolge).
Dann noch die Spezialinfo für die Freunde des Landes Preußen auf. S. 82f. im Abschnitt „Das Verhältnis des Landes Hessen zu Preußen und dem Volksstaat Hessen“:
Das Land Hessen ist weder mit Preußen noch mit dem früheren Volksstaat Hessen identisch. Die früheren deutschen Länder haben durch das Gesetz über den Neuaufbau des Deutschen Reiches vom 30. 1. 1934 (RGBl. I S. 75) ihren Charakter als Staaten mit der Beseitigung ihrer Volksvertretungen und der Unterstellung der Landesregierungen unter die Reichsregierung verloren. Durch den damit verbundenen Verlust ihrer Hoheitsrechte sind sie zu bloßen Gebietskörperschaften höherer Art des zum Einheitsstaat gewordenen Reiches herabgesunken. Eine Identität oder Staatensukzession des Landes Hessen könnte aber nur angenommen werden, wenn das Land Hessen Hoheitsrechte und Verwaltungsbefugnisse anstelle des früheren Landes, Preußen oder des früheren Volksstaates Hessen ausüben würde. Deshalb mußte die Frage der Rechtsnachfolge hinter den früheren deutschen Ländern besonders geregelt werden. Für die Haftung für Verbindlichkeiten der früheren Gebietskörperschaften „Preußen“ und „Volksstaat Hessen“ gilt das oben unter Nr. 3 am Ende Ausgeführte.
Hinweis: Mit „das oben Ausgeführte“ ist das mit der Funktionsnachfolge aus dem Zitat drüber gemeint.
Fazit: Außer Spesen nix gewesen.